Programm
Ein Briefwechsel zwischen Unbekannten. Christoph Linher & Roberta Dapunt
Brief 1: Ein literarisches Blinddate …
weiter ...Liebe Roberta.
Ein literarisches Blinddate also. Ohne jeden Hintergedanken. Obwohl. Sind Hintergedanken nicht notwendiger denn je? Geistige Winkelzüge, Notausgänge aus diesem Gedankenkorridor, in dessen Fluchtpunkt zur Stunde nur gelegentlich Lichtreflexe aufscheinen? Ich denke da auch an eine Art Restlichtverstärker. Schaue mit Katzenaugen in das Rieseln hinter der Scheibe, in das dichte, zartstoffliche Schneerieseln hinter dem Fensterglas, und kann: Ich kann ein Leuchten sehen. Fühle mich erinnert an das körnige Bildrauschen alter Fernsehapparate, das immer auch ein Bruchteil der kosmischen Hintergrundstrahlung in sich trägt. Spuren des allerersten Lichts. Und tatsächlich: Bereits am nächsten Tag klart es auf, bald schon ist der Himmel wolkenlos und weit, wenn auch unfassbar wie vielleicht noch nie. An den Büschen hinterm Haus hängt der letzte Morgenfrost als brüchiges Weiß. Vor dem Haus Tau auf dem Beikraut bis weit in den Tag hinein, gierig silbern schimmernd, schillernde Leuchtdioden, ein Sternenfall. Dazwischen ein ellenlanger Schachtelhalm, dessen in der Mittagssonne erzeugter Schattenwurf in jene Richtung weist, in welcher der Bahnhof liegt. Eine Station, an der bis auf Weiteres kein Zug mehr hält. Und wieder biegt das Denken ein in den nämlichen Korridor. Seit vergangener Woche, musst du wissen, sind Teile unserer Ortschaft abgeriegelt, wir sind – wie man so sagt – von der Außenwelt abgeschottet. Sperren, nicht nur an den Zubringerstraßen, sondern auch an Forstwegen, Radstrecken, Brücken. Beidseits des Sperrgitters an der Brücke über den Grenzfluss treffen sich gelegentlich Jugendliche, reden, reichen sich Gegenstände durch das Gitter, schweigen, rauchen, bis eine vorbeifahrende Streife die Gruppe zerschlägt und nichts bleibt als das Nachtönen der Schritte im Klangraum der gedeckten Holzbrücke und eine schwach glimmende Zigarettenkippe auf dem grauen Asphalt davor. Dort, wo sie nicht durch die Bahntrasse, die Straßenführung oder den Lauf des Flusses vorgegeben ist, lassen die Grenzziehungen an willkürliche Demarkationslinien denken, als befänden wir uns in einer Nachkriegszeit, in einer am berühmten Reißbrett geteilten Weltgegend. Aber wem erzähl ich das? – Italien als tragische Blaupause. Du wirst es vermutlich nicht wissen, aber italienische Verhältnisse sind bei uns das Reizwort schlechthin in diesen Tagen. Als könnte darunter etwas anderes verstanden werden als il dolce far niente! Es kann. Aber darüber wirst du besser zu berichten wissen.
Ein Gruß aus V und nur das Beste,
Christoph
Christoph Linher (*1983) lebt und arbeitet als Autor und Musiker in Vorarlberg. Er hat 2015 den Vorarlberger Literaturpreis erhalten. Zuletzt bei Müry Salzmann erschienen: „Farn» (2016) und „Ungemach“ (2017).
Seine Briefpartnerin ist die Südtiroler Lyrikerin Roberta Dapunt (*1970). Christoph Linhers Briefe werden für sie von Werner Menapace ins Italienische übersetzt.
Cara Roberta. ist ein Kooperationsprojekt von literatur:vorarlberg netzwerk, Literaturhaus Liechtenstein, der Südtiroler Autorinnen- und Autoren-Vereinigung und Literaturhaus & Bibliothek Wyborada.