Programm
Ein Briefwechsel zwischen Unbekannten. Peter Gilgen & Gabriele Bösch
Brief 2: Es ist schön …
weiter ...Lieber Peter,
es ist schön, in diesen Zeiten ein Du geschenkt zu bekommen. Dieses Du ist mir wie eine Biene auf dem leuchtenden Löwenzahn, der jetzt zu verblühen beginnt. Bienen sind kostbar geworden. Ich habe heute gelesen, dass diese weltweiten Shutdowns den Transport der Bienenvölker zwischen den Ländern verhindern. Ein Bild aus China kommt mir in den Sinn: Menschen in weißen Schutzanzügen bestäuben die Blüten der Bäume von Hand. Menschen in weißen Schutzanzügen sind es auch, die jetzt andere Menschen untersuchen, behandeln und heilen. Die beiden Bilder überlappen sich in meinem Kopf und werden eins.
Dein Du ist mir auch ein neuer Weg unter Wegen, deren wenige private oder kulturelle, die ich in der materiellen Welt noch zu gehen pflegte, man mir nun mit dem Shutdown genommen hat. Ich vermisse das Lachen in einer Theatervorstellung, das durch Betroffenheit ausgelöste Schweigen, das Verbindende in der Trennung, sich einmal jenen und dann wieder anderen zugehörig zu fühlen.
Ich vermisse die Umarmungen meiner Freunde. Die seltenen Momente, in denen ich einen von ihnen treffe, weil ich etwas vorbeibringen muss, stehen wir maskiert vor der Haustüre, lächeln uns beschämt zu und halten zwei Meter Abstand voneinander, weil dies das Maß ist, das die mit 40 kmh vorbeifahrende Polizei vom Auto aus als tolerierbar diagnostiziert. Die Strafen, von oben verordnet, sind drakonisch. Ob es hier, im Weg unseres Briefeschreibens, auch eine Selbstverordnung zur Maskenpflicht und zum Abstandhalten geben wird, da wir wissen, dass unsere Briefe veröffentlicht werden?
Das ist eine Frage, die ich mir seit Zusage zu diesem Projekt „Cara Roberta“ stelle. Ergo habe ich für mich beschlossen, meine persönlichen Zusagen, Absagen, mein Versagen auch, das viele Nicht-Sagen und das Einsagen von außen durch kolportierte Bilder zu beschreiben. Ich kann dir nämlich nicht viel von draußen berichten, da ich nicht viel unterwegs bin. Ich sitze in diesem Moment auf dem Balkon und blicke in den Garten. Der Flieder blüht, der Schneeball auch, und bald werde ich Holdersaft ansetzen. Es duftet in konzertierten Nuancen und die Tastatur ist voller Blütenstaub. Im Hühnerstall gibt es nun jeden Tag ein Ei zu ernten und das neue alte Hochbeet ist vorbereitet für die Anbausaison. In den letzten Wochen habe ich oft gedacht, dass wir gesegnet seien. Mit eigenen Walnüssen und Bärlauch vor der Haustüre, mit eingekochten Beeren und anderem Allerlei vom letzten Jahr lässt es sich sehr lange überleben. Diese (natürlich nicht allumfassende) Selbstversorgung ist mir seit Tschernobyl ein Anliegen gewesen. Damals war mein erster Sohn ein Jahr alt und ich habe die ersten Hamsterkäufe meines Lebens erlebt. Aber das weißt du ja, ich habe das an anderer Stelle schon beschrieben. Aber wusstest Du, dass es dort jetzt schon so lange brennt? Auch diesbezüglich überlagern sich Bilder in meinem Kopf. Wir haben in 34 Jahren nichts gelernt. Also schaue ich an diesem Sonntag in den Garten, höre die Vögel singen, sehe dem Spatz zu, der an einem Eck des Hochbeetes landet, die Kante entlang hüpft, was nicht unkompliziert ist für ihn, sehe, wie er auf die frische Erde kackt und davonfliegt. Eine kleine Selbstverständlichkeit wird zu einer Koordinate auf meiner Sicherheitskarte. Mao hat einst eine Hungerkatastrophe ausgelöst durch die Vernichtung der Vögel.
Zurück zu den Wegen. Die beruflichen Wege gehe ich seit vier Jahren auf drei Beinen.
Ein Bein heißt Altenbetreuung; an einer momentan wechselnden Zahl von Tagen in der Woche betreue ich eine alte Dame, die an Demenz leidet. Sie wird heuer neunzig. Die Tage mit ihr sind fallweise zeitlos. Wir machen alles, was wir machen, in einer Langsamkeit, die mich wohl allmählich zu prägen beginnt.
Ein Bein heißt nach wie vor Literatur. Es gibt zwei Projekte, die wohl noch länger nicht abgeschlossen sind, aber ich habe auch hier keine Eile. Auch die Pausen zwischen den Sätzen meiner alten Dame prägen allmählich meinen Umgang mit Sprache und deren Inhalt. Ich nehme diesbezüglich einen Kredit auf die Zukunft. Nicht alles muss jetzt veröffentlicht werden.
Das dritte Bein ist meine Arbeit im Atelier, das ich in Lustenau (der Nachbargemeinde von Hohenems) habe. Dort zeichne ich mit Tinte und Feder die Muster der Lebendigkeit des Lebens so wie ich sie verstehe. Es ist wohl ebenso ein Schweigen wie die intensivsten Momente mit meiner alten Dame ein Schweigen im Schweigen sind. Eine Form von Gebet. Eine stille Liebe.
Alle drei meiner Beine fußen auf einer Einsamkeit, die ich selbst gewählt habe. Doch zunehmend mit der Zeit im Shutdown ist mir, als hätte man mir eine verordnete Einsamkeit über die schon vorhandene selbstgewählte gestülpt. Die Wörter verhallten in dieser Isolierschicht dazwischen, die Zeichen, die meine Hand mit der Feder auf das Papier brachte, waren nicht mehr jene, die sie sein wollten. Ich habe nicht mehr geschrieben und habe aufgehört ins Atelier zu gehen, in welchem ich zuvor intensiv für eine Ausstellung im Herbst gearbeitet hatte. Doch jetzt gibt es da ein Du am anderen Ende der Welt, und ich freue mich, dass wir uns direkt schreiben und nicht nur unsere Texte, verfasst zu einem bestimmten Thema, in einem Band nebeneinandergestellt, lesen.
Dein Du ist mir übrigens auch wie die Auferstehung der Küchenuhr, die ich vor sechs Wochen abgehängt hatte. Ich habe die Zeit zwischen der Zeit verloren. Die Zeit ist an den Wechsel von Licht und Dunkelheit gebunden. Ich schlafe jetzt mehr als all die Jahre zuvor. Tagsüber wäre die Zeit an die vielen kleinen Wege meiner Finger gebunden. Im Nichtstun gibt es keine Orientierung. Das Denken kreist. Jetzt wird das Du zum heilenden Auftrag und ich danke dafür.
Dabei hatte alles anders angefangen. Das erste Bild, das ich mit dieser weltweiten Krise verbinde, ist wieder eines aus China. Eine leere Stadt. Die Menschen sitzen in ihren Wohnungen, die Stadt ist in Viertel eingeteilt. Eine App sagt dir, ob du die Wohnung verlassen darfst, in welches Viertel du gehen darfst und in welches nicht. Ein App sagt dir auch, ob dein Nachbar infiziert ist oder nicht. Überwachung von oben. Überwachung auf Augenhöhe. Überwachung von innen, weil du ständig Fieber misst. Das hat mir Angst gemacht, mehr als das Virus. Irgendwo habe ich gelesen, wenn man den Menschen Freiheit und Gesundheit zur Wahl stellte, würden sie sich für Gesundheit entscheiden.
Damals war China noch weit weg. Wir schrieben den 11. März. Ich war schon zwei Wochen vorher in keiner Art von Öffentlichkeit mehr gewesen, um meine alte Dame nicht unwissentlich anzustecken.
Einen Tag später telefonierte ich mit meiner Tochter in Lissabon. Sie macht dort im Erasmusprogramm ein Auslandssemester. Sie sprach davon, dass man munkle, dass es bald einen Lockdown gäbe. (Ich musste das Wort erst nachschlagen. Zum ersten Mal im Leben bedauerte ich, keinen Fernseher zu besitzen.) Ich hörte sie am Telefon husten, sie hatte die letzten zwei Wochen eine Grippe gehabt. Zum ersten Mal machte ich mir Sorgen.
Am 16. März kam dieser Lockdown. Ich weiß noch, wie ich den Arbeitsvertrag und den Mietvertrag für das Atelier ins Handschuhfach des Autos legte. Als ich an diesem Abend, es war schon dunkel, von meiner alten Dame nach Hause fuhr, waren nur fünf Autos auf der Rheintalautobahn unterwegs. Alle fuhren hintereinander mit nur 100 kmh. Keiner überholte. Es war, als wollten wir uns alle nicht gerne aus der Sicht verlieren. Als ich von der Autobahn abfuhr und bei der ersten Ampel hielt, fragte ich mich, wieso ich das tat. Kein Mensch, kein anderes Auto war zu sehen. Das war höchst seltsam. Ich dachte daran, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen meine Arbeit noch hatte, dass ich mich noch bewegen durfte, dass ich fast keine Einbußen erlitt und dass wir einen Garten hatten, der mit vielen Aufgaben auf uns wartete. Ich fühlte mich krisensicher. Und doch war da dieses Gefühl der Surrealität. Ringsum verschwand eine ganze Welt und mir wurde über Nacht „Systemrelevanz“ beschienen. Von der Systemkritik zur Systemrelevanz innerhalb von Stunden. Das Wort Zusammenhalt war in aller Munde und wurde in diesem Land von vielen Menschen in die Tat umgesetzt. Ich war tief berührt davon, dass die Vorarlberger Industrie z.B. sich plötzlich zusammenschloss und Schutzmasken für das medizinische Personal zu produzieren begann. Ich war froh, dass diese Krise vielleicht einen höheren Sinn barg.
Dann korrespondierte ich mit meiner französischen Freundin. Sie schrieb mir, ihre Kinder, beide Ärzte, seien an der Front. Ich war schwer irritiert. Von Krieg war die Rede. Von Sieg war die Rede. Ich sah den offenen Grenzen zu, wie sie der Reihe nach umfielen. Ich weiß, das ist ein Bild, das nicht funktioniert, und doch war es in meiner Wahrnehmung so da – das mag an diesem Dominoeffekt liegen. Die Grenzen werden jetzt bewacht und da der Flugplatz unseres Landes gleich hier in der Nähe ist, hörte ich mitten in dieser gespenstischen Stille den Hubschrauber ständig starten und landen, alle anderen Flugobjekte waren vom Himmel verschwunden. Ich hörte unseren Innenminister uns zu Lebensrettern erklären, und dachte, dass das Wort sein Gegenteil enthalte. Es dauerte auch nicht lange und jene, die keinen der fünf guten Gründe hatten, das Haus zu verlassen, und draußen angetroffen wurden, zahlten saftige Strafen und wurden zu Lebensgefährdern erklärt, weil sie ja stille Symptomträger sein könnten. Tagtäglich wurden und werden im Fernsehen die Zahlen der Gefallenen in diesem Krieg veröffentlicht. Eine ganze Nation, ganze Nationen weltweit verfolgen an Bildschirmen jeden einzelnen Tod in Form einer Addition. Die Waffen in diesem Krieg sind Drohungen. Wenn wir uns nicht eingrenzen, sagt der Kanzler, haben wir mit hunderttausend Toten zu rechnen, dann wird bald jeder jemanden kennen, der einen Menschen verloren hat. Das sagt er mit einem Gesicht, das keinerlei Besorgung erkennen lässt. Und zusätzlich hält er sich selbst an den Händen, eine Mischung aus Faltung und Reibung. Botschaft und Gestik sind nicht kohärent. Das war am 30. März. Ab da schlichen sich seltsame Gedanken bei mir ein. Wenn wir uns nicht eingrenzen. Das heißt, wir werden alle zu Soldaten in diesem Krieg gemacht, zu feindlichen Soldaten sozusagen, da, wenn wir nicht unterlassen, der Krieg verloren geht. Gesunde Menschen werden zur Bedrohung verkehrt.
Zuvor war ich ein gesunder Mensch gewesen. Dass ich durch meine Tätigkeit in der Altenbetreuung plötzlich zum systemrelevanten Menschen und gleichzeitig zur möglichen Lebensgefährderin erklärt wurde, ließ meinen Blutdruck in die Höhe fahren. Und das wiederum erschien mir so kurios, da ich mich doch vorher schon freiwillig an diese ganzen Beschränkungen gehalten hatte, um meine alte Dame nicht zu gefährden. Es muss an dieser Kriegsrhetorik liegen, dachte ich. Und als am 4. April die Bilder aus China zum Gedenken an die Coronatoten um die Welt gingen, da ging mein Blutdruck endgültig durch die Decke. Wie bringt man jeden einzelnen Menschen eines Staates dazu, zeitgleich für drei Minuten stillzustehen, egal ob er im Auto sitzt, in der U-Bahn unterwegs ist oder auf dem Feld arbeitet? Ich habe vor diesem Überwachungsstaat offensichtlich viel mehr Angst als persönlich vor dem Virus. Ich litt noch nie in meinem Leben an Bluthochdruck, deshalb suchte ich einen Arzt auf. Er verschrieb mir ein blutdrucksenkendes Mittel. Und so mutierte ich zu einem systemrelevanten Risikogruppenmitglied, das gleichzeitig eine potentielle Lebensgefährderin ist, da ich zu meinem Mann nicht auf absolute Distanz gehen kann, der ebenfalls ein systemrelevanter potentieller Lebensgefährder ist, da er nach wie vor in seiner Firma mit vielen, wenn auch jetzt mit weniger Menschen, arbeitet. Wir atmen dieselbe Luft, das lässt sich nicht vermeiden. Aber wir haben uns seit Wochen nicht mehr geküsst. Ich ermahne ihn des Händewaschens und hasse mich dafür.
Meine alte Dame leidet auch. Wir haben, schon bevor die Altersheime das hier taten, Besuche untersagt und statt der täglichen Spaziergänge in die Stadt, um Kaffee zu trinken und allfällige noch verbliebene Bekannte zu treffen, einsame Gänge durch ein menschenleeres Viertel getätigt – sie mit dem Rollator, ich mit Maske. Am letzten Freitag blieben wir vor einem Zebrastreifen stehen, weil ich aus der Ferne zwei Radfahrerinnen entgegenkommen sah. Die erste Radfahrerin ist vorbei gesaust, die zweite bremste ab und blieb stehen. Ich sah ihr ins Gesicht und bedankte mich. Sie senkte ihren Kopf und sagte: „Ich danke Ihnen.“ Ich war verwundert, wieso dankte sie mir? Wieso senkte sie den Kopf? Erst viele Schritte später begann ich zu verstehen. Sie dankte mir dafür, dass ich meine Arbeit fortsetzte. Viele Betreuerinnen sind noch kurz vor dem Shutdown in ihre Heimat gereist. Nach Rumänien, in die Slowakei. Nicht alle konnten zurückkommen. Für jene, die blieben, wird es einen Bonus von 500 Euro geben. Man dankt hier den Menschen, die blieben, um das System aufrechtzuerhalten, aber der Betrag ist lächerlich, er ist wohl am Lohn für zwei Wochen gemessen. Dieses Virus deckt viele Missstände auf, auch und gerade im Betreuungssystem.
Ich habe gemerkt, dass diese Arbeit mich zunehmend belastet. Nicht die Arbeit selbst, aber dass ich jetzt Nasenmundschutz und Handschuhe tragen soll. Berührung ist für alle Menschen wichtig, speziell für demente Menschen. Vor vier Jahren habe ich diese Berührungen eingeführt, sie haben meiner alten Dame über viele Stunden der Angst, die sie immer dann entwickelte, wenn ein Bewusstseinsfenster sich öffnete, und ihr klar wurde, was sie alles verliert, hinweggeholfen. Diese Berührungen – und mich kennt sie nicht am Namen oder am Gesicht – mich erkennt sie an meinen Berührungen. An der Sprache und am Inhalt der Gespräche. Ahja, Sie sind das, sagt sie dann. Diese Berührungen soll ich mit Handschuhen machen? Das geht nicht. Sie würde in noch mehr Isolation verfallen. Darum halte ich Abstand zu meinem Mann. Was, wenn ich die Überbringerin des Virus wäre? Hier in Österreich und auch in Frankreich hört man, die ersten Untersuchungen und Vorbereitungen von Klagen in Bezug auf Altersheime und das Versagen der Leitung seien schon im Gange. Laut WHO seien 50% der Todesfälle nach einer Infektion mit Corona in Europa in Pflegeeinrichtungen vorgekommen. Es ist so schwer, die Menschen in Heimen zu schützen. Irgendwo habe ich gelesen, in Schweden hätten die Putzfrauen, die auch in Hotels arbeiten, das Virus in die Heime gebracht. An diese Möglichkeit hatte ich gar nie gedacht. Diese armen, armen Putzfrauen. Und es bleibt völlig ungesagt und unbescholten, dass die einzelnen Regierungen im Jänner die Hilfe der EU ausschlugen -wochenlang gab es nirgendwo genügend Schutzausrüstung (schon wieder so ein Kriegsbegriff).
Ich weiß noch nicht, wie ich weiter mit dieser Situation umgehen werde. Als ich im Jänner eine schwere Grippe hatte, bin ich meiner alten Dame ferngeblieben, bis ich mich wieder gesund fühlte. Da handelte es sich um zwei Wochen. Jetzt ist die Situation eine andere. Immer öfter taucht der Gedanke auf, meine Arbeit in der Betreuung aufzugeben, weil ich den Wunsch hege, meine Kinder wiederzusehen, sie zu umarmen und mein Enkelkind zu knuddeln. Der Kleine ist ein Jahr alt und braungebrannt, wie ich auf Fotos sehe. Ich betrachte ihn, die pure Lebendigkeit, während Tränen auf die Tastatur fallen. Vermischt mit dem Blütenstaub ergeben sie ein seltsames Muster.
Hunderttausend Tote. Diese Annahme vom 30. März. Der Stress, den das in mir auslöste. Und eine gefühlte Woche später kündigt der Kanzler das Hochfahren des Tourismus für Mitte Mai an. Dieses technische Wort Hochfahren, als wären Menschen Maschinen. Dieselbe Mimik und Gestik wie bei der Ankündigung der hunderttausend Toten. Ich hatte mich auch für gezielte Öffnungen ausgesprochen, weil die produzierte Arbeitslosigkeit gigantisch ist. Ich hatte allerdings an die kleinen Geschäfte gedacht, an kleine Lokale, an kleine kulturelle Veranstaltungen und kleinere Betriebe, wo Kontakte überschaubar bleiben. Aber der Tourismus? Wo doch die allergrößte Zusammenrottung des Feindes (des Virus) in Ischgl geschah, von wo das Virus in die ganze Welt transportiert wurde? Ich war entsetzt. So viel nationale Anstrengung und Entbehrung, um den Tourismus wieder anzukurbeln? Wo hier und jetzt immer noch Polizei in den Bergen kontrolliert, ob man den Abstand wahrt, was mir das Wandern vermiest? Wie passt das alles zusammen? In meiner Naivität nahm ich an, dass der Kanzler und sein Beraterstab sich wohl verrechnet hatten. Ich dachte, wir hätten längst eine Herdenimmunität erreicht, die Herdenimmunität gegen Kritik. Bürgerrechte fallen reihenweise, zwar mit Ablaufdatum der Einschränkung versehen, aber aufgrund der Sprache der Kommunikation ist mir deutlich unwohl. Der Kanzler hat sich nie zur Ausschaltung des Parlaments in Ungarn geäußert. Was, wenn ihm das gefiele? Was, wenn er, jetzt auf dem Höhepunkt der Umfragewerte, eine dritte Regierung sprengte? Ich traue ihm und seiner Partei nicht zu, die richtigen Konsequenzen aus dieser Krise zu ziehen. Die anstehenden, vielfachen Dürren werden es zeigen.
Auf einer anderen Ebene habe ich das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Eine Geschichte. Versteckt in all diesen Büchern im Regal. Ich stehe davor und mir fällt der Name des Autors nicht ein. Es ist ein Mann, ich tippe auf Raymond Carver. Das Cover, das ich vage im Kopf hatte, passt aber nicht. Es ist jedenfalls ein Amerikaner. Ich habe die Bücher, so gut es geht, nach Ländern geordnet. Aus unerfindlichen Gründen ist T.C. Boyle woanders hingeraten. „Moderne Liebe“ heißt die Geschichte, Du kennst sie sicher, was erzähle ich Dir da. Diese Lust an abartigen Krankheiten, die gleichzeitige Angst davor, das Ganzkörperkondom, in welchem die beiden jungen Liebenden miteinander schlafen. Die umfassende Arztuntersuchung bis hin zur Genetik, die der junge Mann über sich ergehen lassen muss, damit sie mit ihm zusammenbleibt. Nach der Untersuchung hört er nichts mehr von ihr. Er erfährt weder von ihr noch vom Arzt, an welchem nicht sichtbaren Makel er leidet. Er ruft sie an. Sie ist ablehnend. Er sagt: „Aber wir waren uns doch so nahe!“ Sie sagt: „So nahe dann auch wieder nicht…“.
Abstand. Keine Berührungen. Das „New Normal“ aus Boyles Geschichte wird jetzt im Silikon Valley verkündet, daran wird dort von den Start-Ups mit Lichtgeschwindigkeit gearbeitet. Wir werden nach Corona in einer Gesellschaft leben, die ohne Berührung auskommen will, so tönt es. Touchless am Flughafen, beim Shopping usw., weil die mögliche Bedrohung durch Pandemien und Grippewellen bleibt. Touchless in Altersheimen, da wir die Menschen dort jetzt nicht schützen konnten? Eine solche Welt verliert für mich an Wirklichkeit.
Eines der wichtigsten Muster der Lebendigkeit des Lebens ist der Spalt. Im synaptischen Spalt wird ein elektrisches Signal in ein chemisches umgewandelt. So findet Austausch statt. Und so mag ich mit dir hoffen, dass wir als Art chemische Radikale uns in neuem Denken verbinden. Eines der wichtigsten Lebensprinzipien ist jenes der Osmose. Vielleicht, so mag ich denken, ist die Erscheinung der weltumspannenden Unsicherheit eine Art semipermeable Wand, an der sich ein Konzentrationsausgleich zum Überleben der Zellen abspielt. Vielleicht gelingt es den vielen kleinen Initiativen der momentan gelebten Solidarität sich in den Köpfen der Menschen mehr festzustecken als der Glaube an die Überlegenheit des Wettbewerbs, der so viel Armut produziert.
Es ist Abend geworden, die Lufttemperatur ist schlagartig gesunken, und ich muss den Sonnenschirm einholen. Gleich wird es regnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute Abend eine Fledermaus gesehen habe. Ihr Flattern ist zur Zeit die letzte Bewegung in der Natur, die ich wahrnehme, bevor ich mich ins Haus zurückziehe. In den letzten Jahren ist es ein paar Mal geschehen, dass sich eine Fledermaus ins Obergeschoss verirrt hat. Da hilft nur, die Lichter alle auszuschalten und alle Fenster zu öffnen – und Geduld.
So schicke ich Dir herzliche Grüße über den Teich in ein Land, in dem ich noch nie war.
Alles Liebe,
Gabriele
Hohenems, 26. April 2020
Gabriele Bösch (* 1966) arbeitet seit den 1990er-Jahren als Autorin und lebt mit ihrer Familie in Hohenems. Sie hat 2016 den Vorarlberger Literaturpreis erhalten.
Ihr Briefpartner, der Literaturprofessor Peter Gilgen (* 1963) lebt in Ithaca, New York.
Cara Roberta. ist ein Kooperationsprojekt von literatur:vorarlberg netzwerk, Literaturhaus Liechtenstein und Literaturhaus & Bibliothek Wyborada.