Programm

UNI UTOPIA. / 19.01.21
«Werfen, wie ein Mädchen» ist keine Beleidigung

Akademisch soll das sein, was eine Person an einer Uni lernt, bedeutet gleichzeitig aber oft auch Ausschluss. Weil wichtige oder spannende Inhalte nur via Vorwissen verständlich sind. Weil das, was an einer Uni oder in der Schule gelehrt wird, einem Kanon folgt, der von wenigen geschaffen wurde und nur wenige beinhaltet (und zwar die immer gleichen Namen seit Jahrhunderten). Also hier mal alle Scheinwerfer auf Audre Lorde statt Rainer Maria Rilke. Auf Cornelia Goethe statt ihren Bruder. Darauf, dass Literatur viele Geschlechter hat und politisch sein kann. Universität für alle, denn sonst hat sie keinen Wert, non? ///

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Werfen, wie ein Mädchen ist ein Essay, in dem Iris Marion Young beschreibt, wie unser Geschlecht unsere Bewegungen, die wir jeden Tag machen, beeinflusst. Sie ist dabei nicht essenzialistisch, was das coole daran ist. Nicht essenzialistisch zu sein meint, dass sie Verhaltensweisen von Menschen nicht mit deren Biologie oder «Natur» erklärt, sondern mit der Sozialisierung, die eine Person erlebt. Schon schade, dass philosophische Texte, denen man an der Uni begegnet, oft so kompliziert geschrieben sind, wie Werfen, wie ein Mädchen. Bisschen wie Fisch sezieren, viel Lesemühe, bis der Inhalt dann mal wirklich begreifbar ist. Denn der könnte für viele wichtig sein. Dieser Beitrag soll also gewissermassen zeigen, dass es relevant ist, dass Texte einfach(er) geschrieben werden. Denn viele Theoretiker*innen stellen Vermutungen auf und sagen Dinge, die sehr emanzipatorisch oder informativ sein können.

Young überlegt sich, wieso sich viele Mädchen so bewegen, wie sie sich bewegen. Oder von was ihre Bewegungen beeinflusst werden. Mit Mädchen sind hier Menschen gemeint, die als solche gelesen und erzogen werden, es geht im Essay nämlich vor Allem um junge Menschen und die Erfahrungen in ihrer Kindheit. Es geht um Krafteinsatz, Haltung und Orientierung des Körpers. Um jene Bewegungen, die einen bestimmten Zweck oder eine Aufgabe erfüllen (wie zum Beispiel, einen Ball zu werfen, oder ein Glas zu öffnen). Der Essay kann insofern ermächtigend sein, weil er mit dem Vorwurf aufräumt, dass Mädchen «schwächer» sind. Aufgrund ihrer «Natur». Young sagt, dass das vermeintliche Geschlecht und die dazugehörige Biologie einer Person kaum bestimmt, was diese mit ihrem Körper alles tun kann. Aber das Denken, dass es etwas mit der Biologie einer Person zu tun hat, führt eben trotzdem dazu, dass Personen ihrem (gelesenen) Geschlecht entsprechend behandelt werden. Und das wiederum beeinflusst, wie sich eine Person durch Räume bewegt.

«Jede menschliche Existenz ist durch ihre Situation definiert; die einzelne Existenz der weiblichen Person ist also genauso durch die historischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Grenzen ihrer Situation bestimmt.» (Young)

Es wird also nicht geleugnet, dass es manchmal Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, sondern festgestellt, dass dagegen etwas getan werden kann. Zum Beispiel mittels dieses Essays, um zu lernen, dass es so nicht sein und bleiben muss. Young sagt, dass es keine «ewige weibliche Existenz gibt», dass sich Geschlecht also immer (auch im Laufe eines Lebens) verändern kann und nicht alle Mädchen das Gleiche erleben. Sie sagt aber auch, dass es Dinge gibt, die oft gleich sind. Und um die geht es hier.

«Je mehr ein Mädchen davon ausgeht, dass sie weiblich ist, desto mehr empfindet sie sich selbst als zerbrechlich und unbeweglich und desto stärker vollzieht sie selbst ihr körperliches Gehemmtsein.» (Young)

Nun zu diesen Unterschieden, die nicht sein müssten. Am bezeichnendsten ist die Raumeinnahme und die Umfänglichkeit des Körpereinsatzes, die bei Jungs und Männern ausgeprägter ist, so Young. Bei Mädchen und Frauen sind zum Beispiel die Arme beim gehen oft näher am Körper. Auch untrainierte, nicht so starke Männer haben einen grösseren Bereich, weiter weg von ihrem eigentlichen Körper, in dem sie sich bewegen. Das hat also nichts mit Kraft zu tun. Frauen bewegen sich in einem bestimmten Raum, den sie seltener «verlassen». Bei einer Bewegung nutzen sie eher nur den direkt betroffenen Körperteil, zum Beispiel beim Öffnen eines Glases: Oft wird einfach das Handgelenk und die Kraft der Finger genutzt, statt die Kraft schon von den Schultern ausgehend zu gebrauchen.

Young benutzt den Begriff der gehemmten Intentionalität, womit sie meint, dass Frauen Bewegungen mit dem Gedanken «ich kann» beginnen, dem aber immer auch ein «ich kann nicht» entgegensetzen. Weil sie im Alltag und seit ihrer Kindheit weniger dazu animiert werden, alltägliche Kraftarbeiten zu machen. Weniger angefragt werden, um bei einem Umzug zu helfen, weniger adressiert werden, eine Kiste vom Regal ganz oben zu holen oder eine Lampe zu montieren.

Deshalb: Wenn immer ihr in einem Raum sind und ein Bier ohne Drehverschluss mit einem Feuerzeug öffnen wollt, fragt eine weiblich gelesene Person um Hilfe, wenn ihrs nicht selbst machen wollt oder könnt. Oder lasst euch solche Dinge von einer Freundin beibringen. Animiert die Grrrls um euch herum, alltägliche Kraftarbeiten zu übernehmen, damit das «ich kann nicht» auf dem Boden liegen bleibt und irgendwann vergessen geht. Viele Mädchen trauen sich kleine und grössere Bewegungen nicht zu, weil sie nicht im Zusammenhang mit diesen angesprochen werden. Sie sehen sich zu selten als Akteur*innen dieser.

«In den meisten Fällen wird Mädchen und Frauen weder die Gelegenheit gegeben, ihre gesamten physischen Kapazitäten in freiem und offenem Engagement mit der Welt zu beweisen, noch werden sie in gleichen Masse wie Jungen dazu ermutigt, spezielle körperliche Fertigkeiten zu entwickeln.» (Young)

Laut Young bewegen sich Mädchen und Frauen also seltener in Räumen, in denen sie ihre Kraft entdecken können. Versuchen wir diese Räume im Alltag doch wieder mehr herzustellen.

Ein weiterer Grund, warum sich Mädchen und Frauen gehemmter bewegen, ist, weil sie objektiviert werden, sich beobachtet fühlen. Das Verharren in der Nähe des eigenen Körpers ist also gewissermassen, so Young, ein Schutz. Die Frau entwirft ein kleines Gebiet, in dem sie Subjekt sein kann und nicht objektiviert wird.

Das alles müsste nicht sein, wenn mensch sich dem nur genug bewusst ist und mit neu geschaffenen Alltagspraxen entgegenwirkt (was viele bestimmt schon tun). Brennbälle auf schwer verständliche Texte – ich wünschte es gäbe Werfen wie ein Mädchen als Kinderbuch, das jedem Kind mit jedem Geschlecht das Gefühl gibt, sich so frei bewegen zu können, wie es Lust drauf hat. Auf Bäume klettern, das eigene Zimmer streichen und auf Schuldiskos frei und wild tanzen.

Werfen oder kämpfen oder rennen wie ein Mädchen heisst also eigentlich gar nichts. Es kann nicht als Beleidigung oder Herabsetzung benutzt werden, da Mädchen physisch genauso alles können, wie die anderen Geschlechter.

 

über die Autor*in
Alice Weniger studiert Germanistik und Gender Studies an der Universität Basel und schreibt seit dem Herbst 2020 für den Blog von Literaturhaus & Bibliothek Wyborada. Sie mag Literatur, die verschiedene Sprachen vermischt, genauso brutal wie pathetisch und von unten geschrieben ist.