Programm

CARA ROBERTA. / 4.5.2020
Christoph an Roberta (V)
Schreibtischbild von Christoph Linher

Quelle: literatur:vorarlberg netzwerk

Ein Briefwechsel zwischen Unbekannten. Christoph Linher & Roberta Dapunt

Brief 9: Zunächst einmal bin ich natürlich ganz bei dir …

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Liebe Roberta!

Zunächst einmal bin ich natürlich ganz bei dir: Spekulationen sind das, was sie sind, nämlich nichts als Mutmaßungen, Gedankenspielereien mit unabsehbaren Folgen. Vielmehr ging es mir darum, dass ich bei uns einen offenen Diskurs vermisse, auch einen Dissens, eine Meinungspluralität, hier, in diesem nicht zuletzt durch Einwanderung und ethnische Diversität geprägten und folglich an Kultur- und Denkweisen eigentlich so vielfältigen Land. Alle haben – was anfangs sicher ein Gebot der Stunde war – sprichwörtlich an einem Strang gezogen. Und zugegeben: Der politische Konsens über Parteigrenzen hinweg war für den Moment sogar eine gewisse Wohltat, eine Politik, augenscheinlich bar jeder Verdunkelungstaktik und fernab jenes noch fast jede Aussage verweigernden Enthaltungsmusters, das mir immer mehr als das Hauptparadigma in unserer politischen Landschaft erscheint.

Aber Umsicht bedeutet nicht nur, vernünftige Entscheidungen zu treffen (und sie mussten rasch getroffen werden), sondern sie auch mit derselben Vernunft zu kommunizieren. Vielleicht hätte in dieser Hinsicht die öffentliche Verlautbarung durch unabhängige Experten und Expertinnen dem Eindruck vorgebeugt, es handle sich ein wenig um eine Inszenierung, um ein effektvolles Stagediving im potenziellen Wählerauditorium. Der gegenwärtige Seniorpartner der Regierung kratzt immerhin laut aktuellen Meinungsumfragen an der Absoluten, eine Partei, pardon, Bewegung, die – wie gesehen – keine Skrupel hat, zum Machtgewinn eine Koalition mit den Rechtsrechten einzugehen. Ähnlich exponentiell, wie die Infiziertenzahlen anfänglich gestiegen sind, nahmen auch die Maßnahmen zu, und dies kommunikativ in einer, wie ich finde, immer weniger temperierten, nur bedingt kalmierenden Art und Weise. Angst als Motor. Und die Wesensverwandtschaft zum Schrecken, also Terror, ist eine ersten Grades. Dramatik und Fatalismus haben sich mit jedem Mal verstärkt. Dass diese Vorgehensweise Spekulationen befeuert, finde ich nur mäßig überraschend.

Und ja, es ist ein Privileg, diese Dinge aussprechen zu dürfen, obwohl: Die Zeiten können sich schnell ändern. Presse- und Meinungsfreiheit kann auch einfach dahingehend ausgelegt werden, dass – so wie es beispielsweise unser ehemaliger Innenminister empfohlen hat – kritische Medien möglichst frei von einer Meinung bleiben sollen, indem sie einfach nur noch über das Nötigste vonseiten der Polizei informiert werden, von den direkten und nicht gerade wenigen Anfeindungen bestimmter namhafter Journalisten ganz zu schweigen. Da nimmt es auch nicht Wunder, dass Österreich im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen weiter Plätze eingebüßt hat.

Aber was soll man in diesem Zusammenhang bloß zu Ungarn sagen? Eigentlich verschlägt es einem ja die Sprache. Und erst zur Europäischen Union. Euphemistisch gesprochen führt sie sich selbst ad absurdum. Weniger beschönigend ausgedrückt hat sie vielleicht ihr letztes Quäntchen Glaubwürdigkeit eingebüßt. Denn nach wie vor ist die EU in ihrer Grundintention ein Friedensprojekt, wenn auch – führt man sich die Urinstitution der EGKS vor Augen – eines, das auf ökonomischen Ideen fußt. Aber Friede existiert nur, wo es Freiheit gibt. Alles andere ist ein diktierter Scheinfrieden. Das – wenn auch unter Vorbehalt – große Schweigen der Europäischen Union macht sprachlos. Der Eindruck, dass sie die Ouvertüre zum eigenen Abschiedsoratorium angestimmt hat, ist ein tiefgreifender.

Überall grünt und sprießt und farnt es. Beinahe getraut man sich schon nicht mehr, die Natur schreibend zu betrachten, mit ihr auf diese Weise in Kontakt zu treten, ohne Gefahr zu laufen, als Adept eines verklärenden Romantizismus gestempelt zu werden. Etwas zu sagen von Relevanz, darum muss es gehen, darum muss sich ja alles drehen. Und doch: Ist es für die Begegnung mit der gegenwärtigen Zeit(enwende) nicht auch vorteilhaft, das ruhige und ruhende Auge auf dem scheinbar Unwesentlichen zu schulen? – Das gravitätische Wiegen der Baumkronen im Wind. Der Fluss mit seinem Schwemmholz uferlang. Das Sekundenticken der Uhr, das unaufgeregte Sekundenkreisen auf dem Ziffernblatt einer Bahnhofsuhr.

Es grüßt dich herzlich,

Christoph

 

Cara Roberta. ist ein Kooperationsprojekt von literatur:vorarlberg netzwerk, Literaturhaus Liechtenstein und Literaturhaus & Bibliothek Wyborada.