Programm

CARA ROBERTA. / 12.6.2020
Dragica an Julia (I)

Ein Briefwechsel zwischen Unbekannten. Dragica Rajcic Holzner & Julia Weber

Brief 1: Seit gestern Abend weiß ich, dass du meine Briefpartnerin sein wirst, das erfuhr ich ausgerechnet am Geburtstag meines Sohnes, der im gleichen Jahr geboren ist wie du …

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12.06.2020 Rogoznica, Kroatien

Liebe Julia

seit gestern Abend weiß ich, dass du meine Briefpartnerin sein wirst, das erfuhr ich ausgerechnet am Geburtstag meines Sohnes, der im gleichen Jahr geboren ist wie du, du in Tansania und er in der Schweiz. Man könnte sagen, ihr seid Kinder von Migranten – wann hört man auf Kind zu sein oder Migrant? Ich schreibe auch deswegen du obwohl wir nie eine Sekunde glaube ich geredet haben, nur lächeln im Vorbeigehen erkennen dass man sich kennen sollte durch Bekannte, oder habe ich vor lauter Aufregung in Biel am Literaturinstitut nur die Gesichter meiner Klasse später erkannt? Es ist auch lange Zeit her seit dem, Jahre springen schnell weg.

Ich zögere indem ich die Rahmen stecke, ich habe heute Morgen große Angst öffentlich zu schreiben, vor allem zur Generation meiner Kinder. Das Schuldgefühl irgendwie etwas gut machen zu wollen, irgendwie aus dem eigenen Ungenügen entweder belehrend oder unterwürfig zu werden, sie verkennen oder erkennen aber aus Feigheit lieber sich ducken als das Gedachte zu sagen. Zum anderen öffne ich mit Briefen meine Fenster zu deinen, um auch meine Kinder besser zu verstehen, ohne die ganze Fehlerhaftigkeit ihrer Kindheit als Bumerang fühlen zu müssen. Jetzt sagt eine Stimme, aber Julia ist Schriftstellerin, Mutter, Ehefrau, Freundin, sie selber. Als meine Tochter mich am Radio, wo ich ein Interview gab, hörte, sie war glaube ich sechzehn, sagte sie, kannst du einmal nicht die Wahrheit reden auch am Radio? Die gut formulierende Frau, aber die Mutter, verfremdet durch den Radioapparat, Stimme reduziert nur auf Gedanken ohne umfassenden Blick in unsere Realität, welche im dalmatinischen Dialekt sich abspielte. Aber ich bin Schriftstellerin im Radio, hätte ich sagen sollen, oder habe ich es gesagt?

Ja, wie soll ich auf diesem Seil, falls es ein Seil ist (wenn ich so was schreibe, sage ich, du bist über sechzig), als wäre das eine Formel für irgendetwas Bedeutendes was mich schützen sollte. Gestern schwamm ich im Meer, nicht in irgendeinem Meer, sondern in „meinem“ Meer, nur dreißig Minuten trennten mich vom Meer meiner Kindheit. Ins Meer, bedeutet immer noch für mich, zum Touristen zu werden, jemand anderer, welcher ans Meer kommt um der andere zu sein, leicht, abwesend, mit Sonnenhut. In diesem Ort, wo wir eine kleine Ferienwohnung haben, glauben viele, ich sei Ausländerin, weil ich Deutsch spreche mit H. und blonde Haare habe, wie halt so meistens Ausländerinnen haben.

Ich hab als Kind, bis ich zehn war, bevor wir umgezogen sind, glaube ich, fünfmal im Meer gebadet, jedes Jahr nur einmal. Es lag daran, dass unser Haus auf der Makadam-Straße drei Kilometer vom Meer entfernt war und die Eltern viel zu arbeiten hatten.

Ich war fünf, und mein Bruder drei, der Vater hat ihn auf das Velo vor sich hin gesetzt, und sein Fuß verletzte sich, im Fahrrad eingeklemmt, Blut, Mutters Schreie, eine Ohrfeige bekam sie sofort, die einzige welche ich gesehen habe. Sie eilten zur Ambulanz, und ich blieb mit Großmutter allein zuhause, ich habe meinen Bruder so gehasst weil er mir das erste Mal Im-Meer-Baden versaut hat, später als er zurückkam mit dem Fuß im weißen Verband versteckt, mit geschwollenen Augen vom Weinen, schämte ich mich meines Egoismus. Nicht dass ich damals gewusst hätte was Im-Meer-Schwimmen überhaupt bedeutet, alles Wissen kam nur aus dem Mund der Erwachsenen, und dieses Wissen war nicht verarbeitet für Kinder-Ohren, so musste ich notgedrungen meine Fantasie aufschwellen lassen als ältere Schwester. Das Meer war auch nicht verfügbar für uns wie für diejenigen später aus der Schulklasse, welche durch Fenster zu ihm hin sahen. Meine Eltern kamen in den neuen Ort, vom alten etwa zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt, waren Nachfahren der Kleinbauern und Viehtreiber, diese Dörfler konnten nicht schwimmen, schwimmen war für dokoni, dokoni, sagte meine Großmutter, seien die, welche Zeit, Langeweile haben, normale Menschen haben immer was zu tun um am Leben sein zu können.

Du siehst wie ich durch Abwesenheit im Ausland mich dazu zähle zu denen, welche schwimmen sich erlauben dürfen, weil sie nicht Einheimische sind.

Aber jetzt wo die Strände praktisch leer sind, schwimmen die Einheimischen nicht im Meer weil es zu kalt ist, 20 Grad C ist für sie kein Schwimmwasser und wäre H. nicht aus Tirol, käme mir nie in den Sinn, ins Wasser zu steigen. In der Limmat, ich habe zehn Jahre in der Wasserwerkstrasse gewohnt, habe ich selten geschwommen, ich behauptete ich mag die Farbe des Wassers nicht, grün, und ich komme vom Meer, sagte ich, als wäre das ein Qualitätssiegel, wie „Essen Sie nur Biologisches aus der Schweiz“.

Also, ich werde Musilisch – immer im Sommer wenn wir hier sind lese ich den Mann ohne Eigenschaften so stückweise, anders kann man es nicht, wie dass beim So-viel-des-Guten der Kopf aufgeht, er wird schwer, wenn man zu viel von dem auf einmal liest.

Was wollte ich noch mit Schwimmen sagen? Ich bin im Meer zu dir geschwommen, denke, während ich schwimme, über diese Umwandlung des Realen in diesem Meer jetzt mit dem Meer von gestern. Es kam mir in den Sinn was ich dir schreiben könnte – die Heimat dem entsprechend wäre eine Landschaft, aus der ich leichter die Illusionen, Fantasien, Kindheitsbilder herholen, herunterladen kann. Der Dialekt, die Lieder, das Vogelgezwitscher, alles dies sei eine Erinnerung, was ich gedacht, mir vorgestellt habe. Es ist handgreiflich nah und für immer fühlbar, nicht Suche nach der verlorenen Zeit sondern Suche nach dem Erwachen der gleichen Sehnsucht nach einer Zukunft welche sich in einer anderen realen Zukunft aufgelöst hat. Sich sehnen …

Wenn ich nach St.Georgen die Treppe hoch steigen würde, würde ich an das Baumhaus denken welches mein Sohn und Miguel dort gebaut haben noch in der Unterstufe, um sich vor allen zu verstecken bevor jemand sie heruntergerissen hat. St.Gallen ist der Ort der Kindheit meiner drei Kinder, und dort versuche ich mich in sie damals einzufühlen, ja Melinda Nadj Abonji hat mir die Kindheit meiner Kinder nahe gebracht, genau das Verschwiegene, was ich nicht wissen wollte und konnte …!!!??

Liebe Julia, wie immer am Morgen schreibe ich automatisch diesen Brief, damit ich nicht aufgebe, automatisch heißt nicht kopflos, sondern ich versuche nicht Gedanken gerade zu biegen aber ich bin erleichtert über den ersten Brief hindurch gekommen zu sein. Ich stelle mir sehr lebhaft deinen, euren Alltag vor, und es braucht wenig Fantasie zu wissen dass du schön, gut, intelligent, schnell mir antworten wirst, die Rationalität der vorhandenen Zeit zum Schreiben wird deinen Sätzen diese Prägnanz geben welche ich mir mit so viel Zeit wünsche, aber meine Hände sehnen sich auch nach dieser Zeit mit meinen kleinen Kindern, wo ich die Sätze im Kopf glaubte zu speichern für morgen … und jetzt, wo sind sie, vielleicht mit dir kommen sie zurück …

Bis sehr bald,

Deine Dragica


Cara Roberta. ist ein Kooperationsprojekt von literatur:vorarlberg netzwerk, Literaturhaus Liechtenstein, der Südtiroler Autorinnen- und Autoren-Vereinigung und Literaturhaus & Bibliothek Wyborada.